NEUHAUSEN-STEINEGG, 07.04.2023 (rsr) – Wer waren jene 220 Menschen, die am 6. April 1823 den ungewöhnlichen und mutigen Schritt wagten, der katholischen Kirche den Rücken zu kehren, um fortan ihren Glauben in der Gemeinschaft der evangelischen Kirche zu leben? Damit verbunden war die Frage, warum diese Menschen, dies alles auf sich genommen haben und was war die treibende Kraft dahinter?
Zentrale Fragen, die der evangelische Pfarrer Julian Albrecht im Rahmen des Gedenkgottesdienstes „200 Jahre Evangelische Pfarrgemeinde Mühlhausen“ am Vorabend zu Karfreitag zu ergründen versuchte.
Knapp 40 Christen folgten der Einladung zum offiziellen Auftakt des Kirchenjubiläums nach Steinegg, also genau an jenen Ort der Burgkapelle, an dem sich die evangelische Kirche im Biet vor 200 Jahren gründete.
Das Jubiläumsjahr wird bis zum Erntedankfest im Oktober gefeiert. Neben Kinderzirkustagen, einer Jugendübernachtung auf Burg Steinegg sowie dem Festgottesdienst am 16. April auf Burg Steinegg, folgen weitere Höhepunkte in den Folgemonaten.
Insgesamt 44 Familien, 41 Männer, 38 Frauen und 141 Kinder und Jugendliche seien es gewesen die den Kirchenübertritt wagten.
36 Familien mit zusammen 166 Personen stammten aus Mühlhausen, das damals 457 Einwohner verzeichnete. Aus Lehningen kamen sieben Familien mit 43 Personen und aus Steinegg die Familie des Grundherrn Julius von Gemmingen mit elf Personen, erinnerte Pfarrer Julian Albrecht in seiner Predigt.
Der Umstand, dass fast ausnahmslos Familien in die neue Gemeinde übertraten, sei auffällig.
Es waren vor allem Männer und Frauen, die mitten im Leben standen, Menschen, die sich um ihre oft zahlreiche Kinderschar, sowie die Arbeit in der Landwirtschaft oder im Handwerk kümmern mussten. Es waren Menschen, die von großen finanziellen Sorgen gequält wurden und Menschen, die in der nachnapoleonischen Zeit in einer Zeit der Unsicherheit und des Umbruchs lebten. Die Leibeigenschaft war gerade erst um 1800 abgeschafft worden und die frisch erlangte Freiheit brachte nun auch so manche neuen Herausforderungen mit sich, befand Pfarrer Albrecht.
Und trotz dem oder vielleicht gerade wegen alle dem, suchten und fanden diese Menschen die Zeit und Energie sich so intensiv mit ihrem Glauben und ihrer Kirche auseinanderzusetzen, dass sie schließlich diesen Schritt wagten. Und dieser wurde ihnen nicht leicht gemacht, erinnerte Pfarrer Albrecht, denn fortan seien sie als Abweichler und Abgefallene geächtet worden. Keine Gelegenheit hätte man ausgelassen, sie das spüren zu lassen. So gesehen stellte sich Pfarrer Albrecht die Frage, warum diese Menschen das alles auf sich genommen haben.
„Ich denke es lag vor allem daran, dass diese Menschen immer mehr zu der Erkenntnis kamen, dass die Art und Weise, wie sie bisher ihren Glauben praktizierten nicht mehr tragfähig war. Sie merkten, dass ihre Gottesbeziehung irgendwann nur noch aus oberflächlichen Handlungen bestand, die ihnen ihre Zeit und ihre gewohnte Religion anbot. Vieles davon erlebten sie als menschengemachte Satzungen, die ihren Ursprung nicht bei Gott, sondern in menschlichen Beweggründen hatten. Sie wollten sich weg von einer oberflächlich gelebten, sinnentleerten rein äußerlichen Religion, hin zu einer innerlich im Herzen erfahrbaren Gottesbeziehung bewegen“, so Julian Albrecht.
Den Anstoß zu diesem neu geweckten Interesse an einer inneren Begegnung mit Gott, gab neben einigen Einflüssen aus dem eher pietistisch geprägten Württemberg vor allem ihr katholischer Pfarrer Aloys Henhöfer. Er erlebte diese innere Neuorientierung sehr intensiv. Daraufhin veränderte sich der Inhalt seiner Predigten, die mit katholischen Ohren gehört, zunehmend evangelischer wirkten. Das gefiel nicht allen und so bekam er auch bald von vielen Seiten Gegenwind zu spüren. Als dies schließlich mit dem Ausschluss Henhöfers aus der katholischen Kirche endete, war bei vielen das Maß voll. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis viele Menschen dieser restriktiven Kirche den Rücken kehrten.
Gleichwohl sieht Julian Albrecht auch einige parallelen, zu dem was Familien damals wie heute bewegt. Man sei nicht weit weg von dem, was auch heute viele Menschen und Familien umtreibt. Auch heute merken Menschen, dass die althergebrachten Formen von Kirche und Glaubenspraxis für sie nicht mehr passen und tragfähig sind. Dabei unterscheiden sich weder die evangelische noch die katholische Kirche voneinander. In dieser sich rasant verändernden Welt scheinen beide Kirchen viel zu sehr mit sich selbst und ihren andauernden Strukturanpassungen beschäftigt zu sein, als mit einer vom christlichen Standpunkt aus gegebener Antwort auf die drängenden Glaubens- und Lebensfragen ihrer Zeitgenossen. Jede Kircheninstitution müsse sich deshalb von Zeit zu Zeit die Frage stellen, ob sie den Glauben ihrer Mitglieder eher fördert oder behindert, mahnte Pfarrer Julian Albrecht.
In den Quellen ist über diesen Tag folgendes zu lesen:
„Am 6. April 1823, am weißen Sonntag, fand der feierliche Übertritt statt in der Schloßkapelle zu Steinegg, einem kleinen, im Geschmack des 18. Jahrhunderts hübsch ausgeschmückten Raum […]. Als landesherrlicher Kommisär war der geheime Rat und Obervogt Roth aus Pforzheim, später Staatsrat in Karlsruhe, anwesend, als Vertreter der evangelischen Kirchensektion der Landdekan Sachs von Karlsruhe. Dekan Sachs hielt eine Ansprache über 1. Kor. 1,30. Dann verlas er die von der evangelischen Kirchensektion für diesen Fall besonders zusammengestellten acht Bekenntnispunkte mit den entsprechenden Fragen, die von den Übertretenden mit Ja beantwortet werden sollten. Nachdem die neue Gemeinde ihr Glaubensbekenntnis abgelegt hatte, empfing sie von Dekan Sachs und Pfarrer Lindenmeyer aus Pforzheim das heilige Abendmahl in der Form der vereinigten evangelisch-protestantischen Kirche.
Die Feier verlief ruhig und würdig. Für den Fall, daß eine Störung versucht werden sollte, hatte Geheimrat Roth zwei Zollgardisten nach Steinegg beordert und selbst noch seinen Amtsleiter mitgebracht. Obwohl sich vor der offenen Türe der Kapelle und in den Gängen des Schlosses eine Menge von Menschen drängten, herrschte eine „unglaubliche Stille und Aufmerksamkeit,“ so daß auch außerhalb der Kirche jedes Wort verstanden werden konnte.
(Quelle – Heinsius, Wilhelm; Aloys Henhöfer und seine Zeit, 1925 (Neuauflage 1987), S. 107.)