BADEN-WÜRTTEMBERG, 08.03.2022 (pm) Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Inzwischen sind wohl über 1,7 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Auch Baden-Württemberg bereitet sich auf die aus der Ukraine geflüchteten Menschen vor. Die Krise betrifft daneben viele Bereiche der Landespolitik. Zur Koordinierung hat das Kabinett daher eine ressortübergreifende Lenkungsgruppe eingerichtet.
„Das größte Land Europas hat einen Angriffskrieg auf das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas gestartet. Das ist ein Gewaltverbrechen, das es in Europa seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Putins Aggression ist ein unmittelbarer Angriff auf das Leben, die Gesundheit, die Freiheit und die Selbstbestimmung von 42 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie ist auch ein Angriff auf das Völkerrecht und auf unsere Zivilisation. Sie ist eine tiefe Zäsur in der Geschichte unseres Kontinents und ein steinzeitlicher Rückfall in das, Recht des Stärkeren‘“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Anschluss an die Ministerratssitzung am Dienstag, 8. März 2022 in Stuttgart.
Die Bewältigung der humanitären, der politischen und der wirtschaftlichen Folgen dieses abscheulichen und inakzeptablen Handelns Putins werde Europa und alle seine Mitgliedsstaaten vor enorme Herausforderungen stellen. Kretschmann: „Wir müssen uns alle klarmachen: Wir stehen nach Corona – das noch nicht vorbei ist – in der nächsten großen, krisenhaften Situation, in der die Solidarität aller Menschen in unserem Land gefragt ist.“
Neben den Auswirkungen auf die Energieversorgung, Finanzen, Wirtschaft, Wissenschaft, Schulen und Kultur nahm vor allem der Bericht von Migrationsministerin Marion Gentges über die Situation der Ukraine-Geflüchteten im Land breiten Raum im Kabinett ein.
Größte Flüchtlingsbewegung seit dem 2. Weltkrieg
Migrationsministerin Marion Gentges sagte: „Mit dem Beginn von Putins brutaler Invasion am 24. Februar 2022 hat auch eine in Europa seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr dagewesene Flüchtlingsbewegung begonnen. Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen mehr als 1,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, vor allem Frauen und Kinder, auf der Flucht sind. Sie sind gezwungen, ihr Land zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Die Zahl der zu uns nach Baden-Württemberg Flüchtenden hat sich in der ersten Kriegswoche noch in Grenzen gehalten. Die meisten Flüchtenden blieben zunächst in den an die Ukraine angrenzenden Staaten – in der Hoffnung, möglichst schnell in ihre Heimat zurückzukehren. Seit Ende der vergangenen Woche steigt die Zahl der Flüchtenden aus der Ukraine auch in Baden-Württemberg stark an. Da es offenkundig ist, dass sich Putins Aggression zunehmend gegen die ukrainische Zivilbevölkerung richtet, stellen wir uns auf einen schnellen Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Ukraine ein.“
Vor diesem Hintergrund haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Ende der vergangenen Woche einstimmig erstmals in ihrer Geschichte die Richtlinie zur Bewältigung eines „Massenzustroms“ von Flüchtenden aktiviert (2001/55/EG). Diese hat zur Folge, dass die vom Krieg Flüchtenden aus der Ukraine überall in der EU harmonisierte Rechte in Anspruch nehmen können. Hierzu zählen ein Aufenthaltstitel, zunächst für ein Jahr, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen, der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Wohnraum, medizinischer Versorgung und der Zugang zu Bildung für Kinder. „Das Signal dieses einstimmigen Beschlusses ist klar“, so Gentges. „Europa hilft den unschuldigen Opfern von Putins Krieg schnell und unbürokratisch.“
Enorme Hilfsbereitschaft in Landkreisen und Kommunen
Nach Angaben der Migrationsministerin stellen alle im Land an der Aufnahme von Flüchtenden Beteiligten, Land, Landkreise und Kommunen, eine enorme Hilfsbereitschaft fest: „Ein Lichtblick in diesen dunklen Tagen ist die überwältigende Hilfsbereitschaft der Menschen in Baden-Württemberg. Die Fluchtbewegung aus der Ukraine erreicht Baden-Württemberg zu einem Zeitpunkt, zu dem in den vergangenen sechs Monaten die Kapazitäten in der Erstaufnahme des Landes ohnehin bereits erheblich ausgebaut wurden. Bis zu Beginn des Krieges in der Ukraine waren bereits 900 zusätzliche Plätze geschaffen worden.
Nach Gesprächen mit Ministerin Gentges haben sich die Städte Heidelberg und Sigmaringen, Ellwangen sowie Freiburg alle ohne zu zögern bereit erklärt, die bisher mit dem Land vereinbarten Kapazitätsgrenzen der dortigen Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes für die Zeit des Bedarfs im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine zu erhöhen. An den Standorten Heidelberg (Ankunftszentrum) sowie Sigmaringen und Ellwangen (Landeserstaufnahmeeinrichtungen) stehen damit bis zu 800 zusätzliche Plätze sowie in der Landeserstaufnahmeeinrichtung Freiburg bis zu 100 zusätzliche Plätze zur Verfügung. In Meßstetten wird ein eigenes Ankunftszentrum für Flüchtende aus der Ukraine entstehen.
Enge Zusammenarbeit auf allen Ebenen
In den Landeserstaufnahmeeinrichtungen des Landes können daher dann in maximaler Auslastung bis zu rund 9.800 Plätze belegt werden. Bislang kamen dort rund 1.500 Flüchtende aus der Ukraine an. Da Menschen aus der Ukraine ohne Visum in die EU anreisen können, kommt die bisherige Mehrzahl an Personen zunächst bei Freunden oder Bekannten unter. Zudem werden in den beiden weiteren Stufen der Unterbringung von Flüchtenden, in der vorläufigen Unterbringung in Stadt- und Landkreisen sowie der Anschlussunterbringung in den Kommunen, ebenfalls Kapazitäten aufgebaut.
Ministerin Gentges: „Alle Ebenen arbeiten eng zusammen, tauschen sich jeden Morgen im Stab ‚Flüchtende aus der Ukraine‘ aus. Die kommenden Wochen werden alle erheblich fordern. Aber wir wissen, wofür wir alle Anstrengungen unternehmen: Für die Menschen aus der Ukraine, die ohne jede Schuld um Leib und Leben fürchten müssen.“
Ressortübergreifende Lenkungsgruppe „Ukraine“ eingerichtet
Der Ministerrat hat in seiner heutigen Sitzung außerdem die Einsetzung einer ressortübergreifenden Lenkungsgruppe „Ukraine“ unter Leitung des Chefs der Staatskanzlei, Staatsminister Dr. Florian Stegmann, beschlossen. Für die operative Umsetzung der Beschlüsse in der Lenkungsgruppe wird zugleich ein Interministerieller Verwaltungsstab unter Leitung des Innenministeriums eingerichtet.
In den von nun an wöchentlich stattfindenden Sitzungen der Lenkungsgruppe sollen die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in Baden-Württemberg in allen Lebensbereichen identifiziert und zu ihrer bestmöglichen Bewältigung das gemeinsame Vorgehen festgelegt werden. „Hierzu koordiniert die Lenkungsgruppe alle notwendigen Aktivitäten der Landesregierung. Mit vereinten Kräften werden so ressortübergreifende Entscheidungen und entsprechende Beschlüsse des Kabinetts noch schneller vorbereitet und getroffen, um eine Eindämmung der Auswirkungen zu erreichen“, erklärte Kretschmann.
Für den Bedarfsfall hat der Ministerrat die Lenkungsgruppe befugt, dringende exekutive Beschlüsse zu fassen. Mitglieder der Lenkungsgruppe sind die Amtschefinnen und Amtschefs aller Ressorts aufgrund der möglichen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Eine Geschäftsstelle im Staatsministerium unterstützt die Arbeit der Lenkungsgruppe. Die kommunalen Landesverbände und weitere Experten werden themenbezogen beratend hinzugezogen.