Entführte Pfarrer, erstochene Bauern und ausgelöschte Familien

Erste wissenschaftliche Tagung des Enzkreises konkretisiert das Bild des Dreißigjährigen Krieges für die Region

bei Georg Kost

Bestens gefüllt war der Große Sitzungssaal im Landratsamt bei der ersten wissenschaftlichen Tagung des Enzkreises. Foto LRA Enzkreis /Nicole Sickinger

ENZKREIS/TIEFENBRONN, 01.06.2023 (enz) – „So lang als ihme von Jugendt auf denckhet, seye herumb Krieg gewesen“. Unter diesem Zitat stand die erste wissenschaftliche Tagung, die der Enzkreis im Landratsamt veranstaltete. Das Zitat stammt von dem 80jährigen Jakob Lauth aus Mühlhausen an der Würm, der resümierend auf seine Jugendzeit im Dreißigjährigen Krieg zurückblickte.

Die mit fast 100 Teilnehmern sehr gut besuchte Tagung veranstaltete das Kreisarchiv im Rahmen seines Projektes „Sterben und Leben – der Dreißigjährige Krieg zwischen Oberrhein, Schwarzwald und Kraichgau“. Mehrere Fachleute aus den Bereichen Geschichts- und Archivwissenschaft sowie Archäologie referierten zu den konkreten Verhältnissen, die den Großraum Pforzheim dreißig Jahre lang in Atem hielten.

Den Auftakt zur Tagung bildete am Vorabend ein öffentlicher Vortrag, in dem der Archivar des Hauses Württemberg, Dr. Eberhard Fritz, einen Überblick zum Krieg im deutschen Südwesten bot. Am Tagungsvormittag begrüßte die erste Landesbeamtin des Enzkreises, Dr. Hilde Neidhardt, die Teilnehmer und stellte das Gesamtprojekt vor.

Die Historikerin Sabine Drotziger M.A., die die dazugehörige Ausstellung konzipiert hatte, führte in den Untersuchungsraum ein. Dieser zeigt die für Südwestdeutschland typische Kleinteiligkeit der Herrschaftsgebiete im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eindrucksvoll auf. Am Beispiel des von kaiserlichen Truppen über mehrere Wochen entführten Knittlinger Pfarrers Ulrich Nicolai machte sie auf die besondere Bedeutung der relativ seltenen Selbstzeugnisse, der sog. „Ego-Dokumente“, aufmerksam: „Diese vermitteln besser als die zahllosen amtlichen Berichte einen konkreten Eindruck von den Lebensumständen des einfachen Volkes.“

Der Speyerer Historiker und Archivar Dr. Franz Maier beleuchtete unter dem Titel „Bayerische Ansprüche auf Baden“ das Schicksal der Ämter Pforzheim, Stein und Graben. Über diese zum Territorium der evangelischen Markgrafen von Baden-Durlach gehörigen Bezirke entstand nach deren Niederlage eine Auseinandersetzung zwischen den von Heidelberg aus agierenden Bayern und der katholischen Linie Baden-Baden. So wurde Pforzheim für ein Jahrzehnt lang eine bayerische Stadt.

Diplom-Archivar Konstantin Huber, der Leiter des Kreisarchivs, berichtete mit zahlreichen Diagrammen und Fotos von seinen Forschungen in rund 50 regionalen Kirchenbüchern. Hierin finden sich unzählige Einträge zu den Themenbereichen Gewalt, Seuchen, Hunger und Flucht, die das schreckliche Alltagsleben der Bevölkerung und ihre Überlebensstrategien veranschaulichen. Ganze Familien wurden von der Pest ausgelöscht.

Den Nachmittag der Tagung eröffnete der Siegener Archäologe Nico Vincent Völkel M.A. mit seinem Vortrag zum württembergischen Landgraben zwischen Oberderdingen und Neuhausen. Spuren des bislang wenig beachteten linearen Befestigungswerks, das 70 Jahre älter als die Eppinger Linien ist, lässt sich an vielen Stellen im Wald und teilweise auch auf freier Fläche noch finden. Ein eingespieltes Video verdeutlichte dies für den Heimsheimer Abschnitt eindrucksvoll.

Prof. Dr. Gerhard Fritz aus Murrhardt erläuterte die Funktion und Schlagkraft des württembergischen Landesaufgebots und die Veränderungen durch den Krieg. So kamen die zur Grenzsicherung bei Ölbronn einquartierten bewaffneten Bauern und Handwerker der Ämter Leonberg und Vaihingen bei der Verteidigung des Dorfes gegen ausgebildete Söldner zu großen Teilen ums Leben.

Alle Vorträge wurden dank zahlreicher Fragen und Anregungen aus dem Publikum lebhaft diskutiert. In der Abschlussrunde wurde besonders deutlich, dass der Krieg insgesamt und seine politisch-militärischen Aspekte zwar gut erforscht sind und sehr gute Literatur in beachtlicher Anzahl existiert, dass aber gerade noch große Defizite in der Aufarbeitung der regionalen Verhältnisse und der Lebenswelt der einfachen Bevölkerung bestehen. Einen riesigen Schritt zur Aufarbeitung dieser Defizite machte nun das Kreisarchiv mit der Tagung samt Begleitprogramm, mit der Ausstellung und mit der neuen Website www.enzkreis-geschichte.de.

Nächste Veranstaltungen im Rahmen des Projektes sind am Sonntag, 4. Juni, um 17 Uhr ein Filmabend im Kommunalen Kino (www.koki-pf.de) sowie am Montag, 5. Juni, um 17 Uhr eine öffentliche Führung durch die Ausstellung „Sterben und Leben“ im Landratsamt Enzkreis in der Zähringerallee 3 in Pforzheim.