Enzkreis Landrat wendet sich an Bundeskanzler

Die Stimmung heizt sich intern wie extern zunehmend auf

bei Georg Kost

Enzkreis Landrat Bastian Rosenau: Foto: infopress24.de

ENZKREIS, 18.10.2022 (pm) – Die Kommunen im Land, wie auch im Enzkreis stehen mit dem Rücken zur Wand. Allerorten wird von einer sehr angespannten, ja ernsten Lage gesprochen, weshalb sich am Montag Landrat Bastian Rosenau und Bürgermeister Michael Schmidt Sprecher der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im Enzkreis und Mitglied des Landesvorstands des Gemeindetags Baden-Württemberg in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz und Innenministerin Faeser wendete, der im Einvernehmen aller Enzkreiskommunen sowie des Landkreises aufgrund der Brisanz der aktuellen Lage unumgänglich sei. Vor allem, sei man überzeugt, dass sich die Lage in den kommenden Monaten weiter zuspitzen wird, falls hier keine Gegensteuerung erfolgt. Weiter heißt es:

Wie viele staatliche und kommunale Verwaltungsbehörden sehen sich auch sowohl unsere Kreis- als auch die Gemeindeverwaltungen aktuell großen Herausforderungen gegenüber.
Zur ohnehin stetig wachsenden Anzahl von neuen gesetzlichen und gesellschaftlichen Aufgaben kommt mittlerweile die Krisenbewältigung als „Standardaufgabe“ hinzu.
Eine Krise jagt die nächste, Krisen überlagern sich teilweise sogar.
Um es vorweg zu nehmen: Wir unterstützen ausdrücklich die Positionen der kommunalen Spitzenverbände und wollen mit diesem Schreiben unterstreichen, dass die Leistungsfähigkeit unserer Verwaltungen eine Grenze erreicht hat. Sowohl in finanzieller als auch in personeller Hinsicht sehen wir uns nicht mehr in der Lage, weitere Leistungsversprechen der Politik umsetzen zu können. Diese Aussage steht nicht vor einem politischen Hintergrund oder der Tatsache, dass die von der Politik gesetzten Ziele nicht erstrebenswert seien. Sie resultiert vielmehr allein aus der Erfahrung, dass die Summe aller übertragenen Aufgaben und die stetige Erhöhung von Standards schlicht nicht mehr leistbar ist. Es ist uns hierbei bewusst, dass es Aufgabe der Politik ist, durch entsprechende Rechtsetzung die Lebensumstände der Menschen in unserem Land zu verbessern.
Allerdings hat aus unserer Sicht das Maß an Veränderung und Neusetzung von Aufgaben und Standards das Machbare zwischenzeitlich hinter sich gelassen. Die Überlastung seiner Mitarbeiter/innen, die Herr Minister Habeck vor kurzem für sein Ministerium erklärt hat, ist vor Ort in den Rathäusern und dem Landratsamt bedauerlicherweise nur allzu gut bekannt.

So weisen wir seit geraumer Zeit darauf hin, dass eine qualitative Umsetzung der bereits bestehenden gesetzlichen Aufgaben durch zunehmende Probleme in der Personalgewinnung bedroht ist.
Beispielsweise hat sich die Anzahl der unbesetzten Stellen im Landratsamt Enzkreis innerhalb eines Jahres verdoppelt. Die Personalgewinnung in den Gemeinden ist seit Jahren oft nur noch durch die Einstellung von fachfremden Quereinsteigern einigermaßen darstellbar.
Die Nöte in den Kindertagesstätten sind bekannt und treffen auch Gemeinden, die sich über Jahre hinweg massiv für einen Ausbau der pädagogischen Landschaft engagiert haben. Das bestehende und hoch motivierte Personal muss deshalb bereits ohne weitere gesetzliche Aufträge weitere Aufgaben übernehmen und sieht sich darüber hinaus einer stetigen Erhöhung von Standards gegenüber.
Auch diese lösen in der Regel wiederum weitere finanzielle und bürokratische Belastungen aus. Beispielhaft seien die Änderungen im Sozialrecht (BTHG), im Jugendrecht oder beim Bürgergeld genannt.
In den Städten und Gemeinden führen zudem die aktuelle Flüchtlingskrise und die stetigen Veränderungen in der Kinderbetreuung zu großen finanziellen und tatsächlichen Herausforderungen. Zusätzlich heizt sich die Stimmung intern wie extern zunehmend auf.
Beschäftigte, die bereits massiv Überstunden angehäuft haben und dennoch ein überdurchschnittlich hohes Engagement an den Tag legen, müssen sich von unzufriedenen Kunden fragen lassen, wieso sie nicht in der Lage seien, Anliegen und Anträge ordnungsgemäß und zeitnah abzuarbeiten.
Wir möchten es daher deutlich betonen: Es kann so nicht weitergehen. Gesetze und Vorgaben in immer kürzerer Zeit mit allzu häufig handwerklichen Fehlern, die eine Umsetzung vor Ort sehr erschweren, bringen eine schlicht nicht mehr zu bewältigende Aufgabenflut mit sich. Wir brauchen wieder eine Fokussierung auf das Wesentliche. Wir brauchen einen kritischen Blick auf aktuelle gesetzliche Vorgaben und Standards, insbesondere auf ihre Wirkung in die Zukunft. Am Beispiel der aktuellen Flüchtlingssituation sei aufgezeigt, dass dringender Handlungsbedarf geboten ist.

So verfügen unsere Städte und Gemeinden beispielsweiße nicht mehr über weitere Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen. Bereits in den Jahren 2015/2016 haben die Städte und Gemeinden unter größten Anstrengungen die damalige Flüchtlingskrise gemeistert. Ein Kraftakt, der so aber nicht wieder gelingen kann, denn die Gemeinden verfügen nicht (wie beispielsweiße das Land) über zwischenzeitlich geleerte Aufnahmestationen: Die kommunalen Unterbringungsmöglichkeiten am Ende der Verteilkette sind schlicht und ergreifend noch mit Flüchtlingen aus der damaligen Zeit belegt.
In der Kürze der Zeit und unter den aktuellen Bedingungen Wohnraum in entsprechender Menge aufzubauen ist unmöglich. „Bezahlbarer Wohnraum“ ist schon längst mehr Wunsch als Realität. Förderprogramme hierzu verfehlen regelmäßig ihr Ziel, da sie zu niedrig aufgelegt sind, nicht zur Situation vor Ort passen (beispielsweiße brauchen Kauf und Sanierung von Bestandsgebäuden mehr als vier Jahre) oder Rahmenbedingen wie die Schaffung des notwendigen Baurechts, Lieferkettenprobleme und vieles mehr, gar nicht berücksichtigen.
Wie sehen also die Alternativen aus, wenn sämtlicher Wohnraum belegt ist?
Der Realität des defizitären Wohnraumangebots kann nicht unter Beibehaltung eines Verteil- und Zuweisungssystems entsprochen werden, welches auf der Grundlage viel geringerer Flüchtlings- und Migrationszahlen seit Jahrzehnten seine Berechtigung hatte.
In diesem Zusammenhang sei auch bemerkt, dass weder auf bundes- noch landespolitischer Ebene erkennbar und mit Nachdruck an europäischen Verteil- und Rückführungslösungen gearbeitet wurde.

Wir verzichten an dieser Stelle auf die Nennung weiterer Fragen, der sich die kommunale Ebene tagtäglich ausgesetzt sieht, weil es an zukunftsgerichteten Rahmenbedingungen fehlt.
Wir stellen immer wieder fest, dass die Sicht der politisch Verantwortlichen sich nicht mit der Sicht der Praktiker vor Ort deckt.
Es ist höchste Zeit zu handeln. Es gilt, den angestauten Unmut, das Unverständnis über politisches Handeln, ja die Verärgerung, wenn nicht gar zwischenzeitlich Wut ernst zu nehmen, wie sie deutlich in der Videokonferenz mit Ministerin Gentes und Ministerin Razavi Anfang der Sommerferien spürbar war.
Wir wollen nicht verhehlen, dass die Zusammenarbeit der Verbände und Politik in der Regel als positiv bewertet werden kann. Allerdings werden die Sorgen, Anregungen und Nöte in letzter Zeit allzu oft als „jammern“ abgetan.
Dabei verfolgen wir gemeinsam dasselbe Ziel: für die Menschen in unserem Land optimale Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dies kann nur im Schulterschluss gelingen.
Unsere große Bitte lautet daher: Nehmen Sie die Lösungsansätze und -vorschläge der Kommunalen Spitzenverbände ernst und lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir die Herausforderungen der Zukunft gut bewältigen können.