„Catcalling“ ist kein Kompliment

bei Georg Kost

Catcalling: Foto Kinga Golomb

ENZKREIS/PFORZHEIM. 09.06.2022 (enz) –  Pfeif- oder Kussgeräusche, aufdringliche Blicke, anzügliche Sprüche auf offener Straße oder übergriffige Nachrichten auf Social Media wie „Hey, geiler Arsch“ oder „Komm doch mal rüber, mit mir ist es nachts immer lustig“, aber auch die ungewollte Konfrontation mit Bildern oder Videos sexuellen Inhalts mittels digitaler Medien: das sind noch die eher harmlosen Beispiele für „Catcalling“. Mit dem nationalen Anti-Catcall-Tag am zweiten Freitag im Juni machen die Gleichstellungsbeauftragten bundesweit auf dieses nicht akzeptable Benehmen aufmerksam. Auch die Beauftragten aus Pforzheim und aus dem Enzkreis schließen sich der Aktion an, die von der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Salzgitter, Simone Semmler, initiiert wurde.

Der verniedlichende Begriff „Catcalling“ stammt aus der englischen Umgangssprache und bedeutet „Katzen-Rufen“. Er kann aber auch als das unerträgliche Geschrei verliebter Kater verstanden werden. Unter dem Wort werden alle Arten der sexuellen Belästigung ohne Körperkontakt im öffentlichen Raum zusammengefasst – verbal oder non-verbal. „Catcalling“ richtet sich vornehmlich gegen jüngere Frauen und ist kein „Kavaliers-Delikt“, denn Belästigungen auf der Straße wirken sich bei Betroffenen körperlich und emotional aus: Sie berichten von körperlichen Symptomen wie Muskelverspannungen, Atembeschwerden, Schwindel und Übelkeit sowie starker Angst, z.B. vor Vergewaltigung oder davor, die eigene Privatsphäre nicht schützen zu können.

„Die Belästigungen sorgen dafür, dass Frauen und Mädchen sich nicht mehr unbefangen in der Öffentlichkeit bewegen und bestimmte Bereiche im öffentlichen Raum zu meiden beginnen – das ist nicht hinnehmbar“, sagen die Gleichstellungsbeauftragten des Enzkreises, Kinga Golomb und Susanne Brückner: „Der Hinweis, man solle das doch als Kompliment nehmen, hilft leider nicht, denn sexuelle Belästigung ist kein Kompliment.“

Aktionstag am 10. Juni
Gemeinsam mit dem Frauenbündnis Pforzheim Enzkreis und weiteren regionalen Organisationen rufen Brückner und Golomb daher zur Beteiligung am nationalen Anti-Catcall-Tag „#keinKompliment“ auf, der künftig immer am zweiten Freitag im Juni stattfinden soll. Den Auftakt am 10. Juni nutzt das lokale Organisationsteam, um Betroffene dazu zu ermuntern, ihre erlebten Übergriffe mit der möglichst konkreten Angabe von Ort, Datum und Uhrzeit über die regionalen Mailadressen keinkompliment@enzkreis.de oder  keinkompliment@pforzheim.de zu melden. Dort werden die Vorfälle anonymisiert gesammelt und dokumentiert.

Ein Jahr später, beim nächsten Aktionstag am 9. Juni 2023, sollen die Übergriffe mit Straßen-Kreide dort sichtbar gemacht werden, an denen sie stattgefunden haben. Damit solle zum einen die Sensibilität für das Thema erhöht und die Zivilcourage gestärkt werden, gegen Catcalling vorzugehen, sagen Kinga Golomb und Susanne Brückner: „Wir wollen damit aber auch kommunale Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger oder Polizei und Ordnungsämter zeigen, wo es in der Region Angsträume gibt, also Orte mit erhöhtem Bedrohungspotenzial für Frauen.“

Alle Angaben in den E-Mails werden vertraulich behandelt und ausschließlich in anonymisierter Form veröffentlicht. Bereits die „Me-Too“-Bewegung habe gezeigt, dass es sich lohne, das Schweigen zu brechen, um das Problem der sexuellen Belästigungen im Alltag wahrnehmbar zu machen, ist Kinga Golomb überzeugt. Über die eigene Betroffenheit zu sprechen und eigene Erfahrungen sichtbar zu machen erfordere Mut, mache jedoch vor allem auch denjenigen Mut, die ebenfalls betroffen sind. „Stärken wir uns gegenseitig“, fordern die Sprecherinnen des Frauenbündnisses Pforzheim Enzkreis Annkathrin Wulff, Christine Fischer und Nicole Gaidetzka.

Hintergrund:
Nach einer aktuellen Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erleben 44 Prozent der Frauen, aber auch 32 Prozent der Männer, in Deutschland Situationen, in denen sexistische Zeichen und Übergriffe an sie adressiert sind. Als meist berührungslose, aber unzumutbar aufgedrängte Sexualität ist es derzeit noch kein eigener Straftatbestand bzw. keine Ordnungswidrigkeit. Catcalling ist weder ein Einzelschicksal bestimmter Frauen oder Mädchen, noch etwas was nur in bestimmten Städten/Stadtteilen vorkommt. Jede Frau und jedes Mädchen kann betroffen sein und es kann überall geschehen, auch in der persönlichen Nachbarschaft. Catcalling ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das überwiegend Frauen und Mädchen einschränkt sich frei und unbehelligt zu bewegen.

 

(enz)